Ursachen des Reizdarmsyndroms
Allein in Deutschland leiden 2016 über zehn Millionen Menschen am Reizdarmsyndrom (med. Colon irritabile). Trotzdem sind die Ursachen des Reizdarmsyndroms nach wie vor unklar. Das Reizdarmsyndrom ist eine sehr komplexe Krankheit, die unterschiedliche Ursachen und Erscheinungsformen haben kann. Heute geht man davon aus, dass für die Reizdarm-Symptome verschiedene Ursachen verantwortlich sind. Unter anderem werden folgende Ursachen des Reizdarmsyndroms diskutiert, wobei diese sich auch überlappen und gegenseitig beeinflussen können:
- Durchfallerkrankungen und Infektionen (postinfektiöses Reizdarmsyndrom)
- Ungleichgewicht in der Darmflora (Mikrobiom) und bakterielle Fehlbesiedlung
- Mikroentzündungen mit Häufung und Überaktivität von Immunzellen in der Darmwand (z.B. Mastzellen, Enterochromaffine Zellen und T-Zellen)
- Störung der Darmbarriere und erhöhte Schleimhautdurchlässigkeit (Permeabilität)
- Störung im „Bauchhirn“ (enterisches Nervenssystem)
- Störung des vegetativen (autonomen) Nervensystems und der Darm-Hirn-Achse
- Störungen der Muskelaktivität des Darms (Motilität)
- Überempfindlichkeit des Darms (viszerale Hypersensitivität)
- Falsche Ernährung, Nahrungsmittelunverträglichkeiten (z.B. Fruktose– oder Laktoseintoleranz) und Kohlenhydratmalabsorption
- Umweltfaktoren (z.B. Umweltgifte)
- psychosoziale Belastung
- genetische Prädisposition
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Wie kommt es zum postinfektiösen Reizdarmsyndrom?
Fast jeder Mensch leidet im Laufe seines Lebens einmal an einer Magen-Darm-Infektion (infektiöse Gastroenteritis), die zu Durchfall (Diarrhoe) führt. Dieser Durchfall kann beispielsweise durch Salmonellen-, Campylobacter-, EHEC- und Lamblien-Infektionen ausgelöst werden. Bei etwa jedem zweiten bis dritten Reizdarmpatienten wird diese durchgemachte Magen-Darm-Infektion als Ursache des Reizdarmsyndroms angesehen. Man nennt diese Form dann auch postinfektiöses Reizdarmsyndrom. Beispielsweise weiß man, dass es nach der EHEC-Epidemie 2011 bei etwa 20 Prozent der Infizierten ein Reizdarmsyndrom entstanden ist. EHEC ist eine gefährliche Durchfallerkrankung.
Welche Rolle spielen Infektionen und eine gestörte Darmflora beim Reizdarmsyndrom?
Es wird vermutet, dass beim postinfektiösen Reizdarmsyndrom auch nach dem Abheilen der Infektion weiterhin kleine Entzündungen in der Darmwand zurückbleiben (Mikroentzündungen). Auch wird vermutet, dass sich die Darmflora (Mikrobiom) durch eine Infektion nachhaltig verändert. Hier spielt wahrscheinlich das Verhältnis zwischen den Bakterienarten Firmicutes und Bakteroides eine Rolle. Man hat außerdem festgestellt, dass Reizdarmpatienten mehr Proteobakterien und Firmicutes haben, aber weniger Bifidobakterien, Acinetobacter und Bacteroides. Eine veränderte Darmflora könnte bei der Überempfindlichkeit des Darms (Hypersensitivität), Entzündungen in der Darmwand und andere Reizdarm-Symptomen eine Rolle spielen. Nach einer Infektion des Darms ist das Risiko, am Reizdarmsyndrom zu erkranken, etwa siebenmal so hoch. Bei Betroffenen des postinfektiösen Reizdarmsyndroms ist Durchfall meistens das Hauptsymptom.
Welche Rolle spielt eine gestörte Darmbarriere?
Die Darmwand ist von einer Schleimhaut überzogen. Ähnlich wie unsere äußere Haut auf dem Körper, bildet auch auch die innere Schleimhaut auf dem Darm eine Barriere zu nicht körpereigenen und schädlichen Substanzen. So grenzt die Darm-Schleimhaut unseren Körper vor dem Nahrungsbrei und anderen Substanzen ab. Für die Aufrechterhaltung der Barriere ist eine intakte Darmflora (Mikrobiom) von entscheidender Bedeutung. Man hat festgestellt, dass bei Reizdarmpatienten die Darmwand neben Mikroentzündungen auch eine (Permeabilität) aufweist. Man spricht hierbei auch von einer gestörten Darmbarriere oder auch Leaky-Gut-Syndrom.Der verringerte Widerstandskraft der Darmwand beim Reizdarmsyndrom lässt sich unter anderem durch eine Verringerung der abdichtenden Schlussleisten (engl. tight junctions) zwischen den Zellen der Darmwand erklären. Hierbei spielen wahrscheinlich die Tight junction Proteine ZO-1 und Occludin eine besondere Rolle. Ist die Darmbarriere gestört, können Fremdstoffe und Bakterien einfacher in die Darmwand eindringen. Dies kann Entzündungen und Immunreaktionen fördern, was sich beispielsweise wieder auf die Schmerzempfindlichkeit negativ auswirkt.
Als Ursachen für die erhöhte Durchlässigkeit der Darmwand werden unter anderem diskutiert:
- Ernährung (evtl. Gluten, Weizen ATIs, FODMAPs)
- psychosozialer Stress
- ein gestörter Gallenstoffwechsel und Gallensäureverlustsyndrom (evtl. genetische Disposition, Beta-Klotho (KLB)-SNP)
- Gallensäure-, Fett- oder Karbohydratmalabsorption
- Infektionen
- Störungen des Hormon- und Immunsystems (evtl. genetische Prädisposition für Immunaktivierung durch Toll-like-Rezeptor 9 und Tumornekrosefaktor-Superfamilie-15)
- Störungen in der Darmflora (Dysbiose)
Hierbei ist es schwierig Ursachen und Folgen auseinander zu halten, da die einzelnen Faktoren sich gegenseitig beeinflussen.
Ist das Risiko für psychische Erkrankungen durch das postinfektiöse Reizdarmsyndrom erhöht?
Auch wenn die anfängliche Ursache beim postinfektiösen Reizdarmsyndrom auf der rein körperlichen Ebene liegt, kommt es auch bei dieser Reizdarmform häufig langfristig zu psychischen Erkrankungen. Diese psychische Komponente kann gleichzeitig eine Aufrechterhaltung der subjektiven Darmbeschwerden fördern, obwohl keine körperliche Ursache für das Reizdarmsyndrom mehr gefunden werden kann (Somatisierung). Das Risiko für eine Somatisierung hängt unter anderem von der Schwere der Darminfektion und der individuellen psychosozialen Vorbelastung ab. Das Risiko kann beispielsweise erhöht sein, wenn vorher schon eine Angststörung, Depressionen oder großer Stress vorhanden waren.
Bei den Wechselwirkungen zwischen Darmflora, Darm und Psyche ist eine bestimmte Verbindung durch Nerven und Hormone entscheidend. Diese wird auch Mikrobiom-Darm-Hirn-Achse genannt und ist wichtig, um die Zusammenhänge zwischen Körper und Psyche beim Reizdarmsyndrom zu verstehen. Diese Verbindung ist Gegenstand aktueller Forschung. Man weiß, dass sich bei Reizdarmpatienten, die Konzentration von Hormon Serotonin verändert. Serotonin spielt auch eine wichtige Rolle bei Depressionen. Bei Reizdarmpatienten mit Durchfall als Leitsymptom (Typ-D), steigt der Serotonin-Spiegel häufig, bei Betroffenen mit Verstopfung sinkt dieser eher.
Was ist die Ursache viszeraler Hypersensitivität beim Reizdarmsyndrom?
Viszerale Hypersensitivität bezeichnet eine allgemeine Überempfindlichkeit des Darms und anderer Bauchorgane (lateinisch Viszera) gegenüber Schmerzen. Mediziner sprechen auch von einer Herabsetzung der Schmerzschwelle. Beim Reizdarmsyndrom werden also Reize, die von Gesunden nicht oder als wenig störend wahrgenommen werden, als schmerzhaft bewertet. Diese Überempfindlichkeit beim Reizdarmsyndrom wurde in aufwendigen Experimenten herausgefunden, bei denen der Druck auf der Darmwand schrittweise erhöht wurde. Steigender Druck oder auch bestimmte reizende Stoffe im Darm führen bei Reizdarmpatienten schneller zu Bauchschmerzen und einem Völlegefühl. Bis heute weiß man noch nicht, wie es zu dieser gesteigerten Empfindlichkeit kommt. Grundsätzlich können die Ursachen auf Ebene des Darms, des Rückenmarks und des Gehirns liegen. Wahrscheinlich ist die viszerale Hypersensitivität jedoch eine Kombination verschiedener Ursachen. Die Botenstoffe TNF-Alpha und TRPA1 spielen auch eine wichtige Rolle.
Beim postinfektiösen Reizdarmsyndrom geht man davon aus, dass die in der Darmwand endenden Nerven, die für die Schmerzübertragung wichtig sind, durch die Entzündung gereizt werden. Nach dem Abklingen der Infektion kann dann die Aktivierung der schmerzleitenden Nerven bestehen bleiben, infolgedessen dass die Nerven nicht in ihren ursprünglichen Ruhezustand zurückkehren. Eine Überempfindlichkeit ist die Folge.
Welchen Einfluss hat die Darm-Motilität?
Die Muskelaktivität des Darms wird Motilität genannt. Sie ist für den Transport der Nahrung durch den Darm verantwortlich. Für eine gesunde Motilität ist ein komplexes Zusammenspiel zwischen dem Nervensystem des Darms, dem Gehirn und den Darmmuskeln nötig. Durch eine gezielte Anspannung und Entspannung bestimmter Darmabschnitte wird, ähnlich wie bei dem Ausdrücken einer Zahnpasta-Tube, der Nahrungsbrei durch den Darm bewegt. Man hat nachgewiesen, dass der Transport der Nahrung durch den Darm beim Reizdarmsyndrom gestört ist. Beim Durchfall-Typ (IBS-D) ist die Transportzeit verkürzt und beim Verstopfungstypen (IBS-O) ist sie vermindert. Dies ist auf eine entsprechend erhöhte (IBS-D) bzw. erniedrigte (IBS-O) Motilität zurückzuführen. Inwieweit Motilitätsstörungen eine Ursache oder eine Folge des Reizdarmsyndroms sind, ist noch unklar. Heute weiß man, das auch das Hormon Serotonin eine wichtige Rolle bei Motilitätsstörungen spielt.
Ist das Reizdarmsyndrom vererbbar?
Man vermutet auch eine beim Reizdarmsyndrom. Der Nachweis einer erblichen Komponente ist nicht so leicht und gelingt meist am besten durch sogenannte Zwillingsstudien. Zwillinge sind genetisch fast identisch. In Zwillingstudien wird deshalb untersucht, wie sich bestimmte Krankheiten wie das Reizdarmsyndrom bei Zwillingen entwickeln, die in unterschiedlichen Familien aufwachsen. Dabei hat man festgestellt, dass das Risiko, am Reizdarmsyndrom zu erkranken, bei Zwillingen leicht erhöht ist, auch wenn sie an unterschiedlichen Orten aufwachsen. Da die Zwillinge durch die unterschiedlichen Familien andere soziale, psychische und Umwelt-Belastungsfaktoren haben, ist dies ein Hinweis auf die Vererbbarkeit des Reizdarmsyndroms. Aktuell gibt es Anhaltspunkte, dass Gene, die für die Verträglichkeit bestimmter Lebensmittel oder auch der Darmaktivität (Motilität) wichtig sind, beim Reizdarmsyndrom verändert sein könnten. Hierbei gibt es jedoch nicht ein einzelnes Gen, welches das Reizdarmsyndrom auslösen und vererben kann. Wahrscheinlich sind es vielmehr verschiedene Gene, die eine Entstehung des Reizdarmsyndroms, im Zusammenspiel mit Umweltfaktoren, begünstigen.
Einige Gene, die mit dem Reizdarmsyndrom in Verbindung gebracht werden, sind:
- mitochondriale DNA
- Serotonintransporter (SERT)
- Serotoninrezeptor 2a und 3
- Natriumkanal (Nav1.5 auf Schmerzfasern)
- Fatty-Acid-Hydroxylase,
- Aplpha-2-Adrenozeptor
- TNF-Alpha
- IL-10
Welche Umweltfaktoren begünstigen das Reizdarmsyndrom?
In manchen Familien kommt das Reizdarmsyndrom häufiger vor. Dies kann entweder durch die Gene oder eine bestimmte Umweltbelastung in der Familie erklärt werden.
Manche Krankheiten werden durch ein geringes Geburtsgewicht bei Neugeborenen begünstigt. Man führt dies auf die Ernährung des Fetus während in der Entwicklungszeit zurück. Auch beim Reizdarmsyndrom konnte ein solcher Zusammenhang belegt werden.
Darüber hinaus werden auch andere Umwelteinflüsse als Ursachen für das Reizdarmsyndrom diskutiert. Zu den möglichen begünstigenden Faktoren gehören zum Beispiel
- psychosozialer Stress
- industriell prozessiertes Essen
- Medikamente (z.B. Antibiotika)
- übertriebene Hygiene
- Umweltverschmutzung
Abbildung zur Motiliät: von Boumphreyfr (Own work) [CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0) or GFDL (http://www.gnu.org/copyleft/fdl.html)], via Wikimedia Commons
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